Eines Tages war es wie eine Explosion über mich gekommen. Überwältigende Angst. Angst klingt noch zu schwach, Panik, Kontrollverlust über Gedanken und Wahrnehmungen, über Gefühle, über mich selbst. Nichts war ausgenommen. Ich fühlte die Angst nicht nur, ich war nur noch Angst, personifizierte Angst. Wie ein Geschwür, das auf¬bricht, nur ergießt sich der Eiter nicht im Körper, sondern in den Sinnen.
Wo war Gott in dieser Zeit? Ich wusste es nicht, irgendwo wird er gewesen sein, vielleicht da, wo er immer war. Beobachtete er mich und bestrafte mich, von oben herab?
Meine Welt, meine kleine Kinderwelt war untergegangen und auch meine Jugend wurde mitgerissen. Ich war siebzehn Jahre alt. Das, was meine Seele ausmachte, war gestorben. Und doch lebte ich noch, mein Körper hatte überlebt. Ich war gefallen, aus endloser Höhe, tiefer und immer tiefer, dann ein harter Aufprall, aber kein erlösender Tod. Kein seliges Hinüberglei¬ten. Wach werden und begreifen, ohne wirklich zu verstehen, dass es mich noch gab. Ich kann mich nicht erinnern, wann man mir sagte, was das für eine Krankheit sei. Man sprach von einer Psychose.
Dieses Erwachen oder besser gesagt: Wieder-zu-mir-selbst-Kommen, fand in einem großen Schlafsaal statt. Grelles Licht blendete mich, ein paar Frauen liefen umher, seltsame Gestal¬ten. Ich wusste nicht, wo ich war, konnte nicht aufstehen, meine Arme waren am Bett festgeschnallt und auch über dem Bauch war ein Gurt, den man aufschließen musste. Was war bloß geschehen, was hatte ich getan, was hatte ich verbrochen? Vergitterte Fenster nahm ich wahr. Eine Frau sah aus wie eine Krankenschwester, sie gab mir etwas zu essen und zu trinken. Sie beantwortete meine Fragen nicht. Woher erfuhr ich, wo ich war? Psychiatrie, Irrenhaus, Klapsmühle ... Zuerst bildete ich mir ein, ich sei gestorben. Die Tage vergingen. Ich erinnere mich kaum an diese Zeit nach der Einlieferung.
Eines Tages verlangte ich nach meiner Bibel. Meine Großel¬tern hatten sie mir geschenkt, sie hatte einen Ledereinband mit Reißverschluss. Ich wollte sie öffnen, eine Seite zerriss, meine Hände waren unbeholfen, ich war noch angeschnallt. Nach vier Wochen durfte mich meine Mutter besuchen. Ich konnte mich nicht freuen. Meine Gefühle waren nicht fühlbar, es kam mir vor, als wären sie tot. Wir saßen in einem kleinen Zimmer, nach wenigen Momenten wollte ich wieder ins Bett. Ich war schwach, hatte keine Kraft zu reden. Wie mag es meiner Mutter bei all dem gegangen sein? Nichts tun können und auch nichts verstehen von dem, was hier geschah? Ich bekam viele Medi¬kamente: Valium, das ich nicht nehmen wollte, weil ich Angst davor hatte. Eine Lehrerin hatte im Religionsunterricht davor gewarnt. Die Schwestern logen mich einfach an. Nein, das sei kein Valium. Dominal forte zum Schlafen, Atosil-Tropfen, Glianimon, Akineton für die Nebenwirkungen.
Nach etlichen Wochen durfte ich tagsüber in den großen Saal, in dem die Frauen saßen oder umhergingen. Die Fens¬ter waren hier ebenfalls vergittert, die Türen abgeschlossen. Ein Radio spielte, es gab nichts zu tun. Ich hätte auch nichts tun können. Wenn ich lief, hielt ich die Arme angewinkelt, meine Schritte waren unsicher, der ganze Körper verkrampft. Die Schwestern machten sich über mich lustig. Wussten sie nicht, dass ich nicht anders konnte? »Christkindl« nannten sie mich, als vor Weihnachten der Baum geschmückt wurde. Ich konnte mich nicht wehren, schämte mich, und konnte mich nicht einmal ärgern. Die Schwestern waren hart und lieblos. Nur eine Schwester war anders. Alle Patientinnen riefen ihren Namen, wenn sie unsere Medikamente ausgab. Sie hieß Anne¬liese, ich habe es bis heute nicht vergessen. Sie hatte immer ein aufmunterndes Wort für jede Frau, wenn sie uns die Medika¬mente gab. Sie machte keine abfälligen Bemerkungen, eigent¬lich war es nicht viel, nichts Außergewöhnliches. Die anderen Schwestern waren giftig, wir trauten uns nicht, uns zu wehren, denn das wäre auf uns zurückgefallen.
Meine Gefühle waren wie unter einem Gipsverband. Es fühlte sich an, als sei mein Körper ausgehöhlt. Wenn das Essen auf den Tisch kam, schlossen die Schwestern die Toilette ab. Nie¬mand sollte mit dem Messer auf der Toilette verschwinden und sich etwas antun. Das Besteck wurde auf die Holztische geworfen. Das Geräusch erschütterte mich jedes Mal. Seltsa¬mes Gerede am Tisch. Es schmeckte mir nicht, ich nahm in der Zeit zehn Kilo ab. Eine Holländerin am Tisch sagte bei jeder Mahlzeit dasselbe: »Butter ist Nervenfutter.« Damals waren alle auf einer Station, eine Rauschgiftabhängige, die selt¬same Tänze aufführte, eine Mörderin und andere, die gar nicht ansprechbar waren. Eine dicke Frau war stark geschminkt und stopfte Unmengen von Schokolade in sich hinein.